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August Gottlieb





geb. am 18. 12. 1844 in Waldkappel - gest. am 13. 06. 1903 in Wiesbaden

Zusammengestellt von Konrad Lipphardt, Bad Hersfeld im Jahre 2003




Bild 1: August Gottlieb



Anfang Februar 2002 erhielt ich eine eMail von einem Professor von der Freien Universität in Brüssel, in der dieser mir mitteilte, dass er an einer Zusammenstellung der Hanf- und Jutespinnereien arbeite, die vor dem Ersten Weltkrieg in Europa existierten. Er fragte in seiner Mail an, ob ich ihm Informationen über die von August Gottlieb gegründete Seilerwarenfabrik geben könne, die später Teil der Vereinigten Jute-Spinnereien und –Webereien geworden sei. Da erinnerte ich mich an Frau Aenne Eckhardt, die Chefsekretärin bei Vehal gewesen war, dem Nachfolgebetrieb der soeben genannten Firma. Frau Eckhardt hatte dort ihre Ausbildung erfahren, kannte daher den Betrieb sicher bis in den letzten Winkel und würde möglicherweise auch Informationen über August Gottlieb liefern können. Meine Vermutung trog nicht und so erhielt ich neben einer maschinengeschriebenen kleinen Firmengeschichte eine von der Aktiengesellschaft August Gottlieb herausgegebene Schrift über das Leben und Wirken des Fabrikanten und eine Schrift von Wilhelm Neuhaus aus dem Jahre 1924, die er anlässlich der Wiederkehr des 80. Geburtstages von August Gottlieb verfasst hatte. Letztere erschien auch in „Mein Heimatland“, Bd. 7, aus dem Jahre 1925. Das Interesse des belgischen Professors und das mir übergebene Material waren für mich Grund genug, mich nun selbst mit August Gottlieb zu beschäftigen. Natürlich war mir der Name des Mannes bekannt, der die Seilerei gegründet hatte, gehörte er doch zu den Männern, die wie Adolph Wever, Adam Rechberg, Georg Braun, Benno Schilde, Georg Börner und anderen dafür gesorgt hatten, dass es in dem bis dahin beschaulichen Landstädtchen Hersfeld in den Jahren zwischen 1870 und 1914 wieder zu einem wirtschaftlichen Aufschwung gekommen war. Die handwerksmäßige Herstellung von Waren hatte sich gegen die Konkurrenz der überall entstehenden Fabriken nicht behaupten können. Auch mit dem Hersfelder Gewerbe der Seilerei war es abwärts gegangen. Im Jahre 1747 waren noch 13 Schnurmacher gezählt worden. Sie waren 1875 auf 6 Werkstätten mit 21 Gehilfen zusammengeschmolzen. Unter ihnen aber war jedoch schon der Mann, der diesem Erwerbszweig für unsere Stadt eine neue Bedeutung gab, August Gottlieb.

Wer nun war August Gottlieb? Viel ist es nicht, was man noch über diesen Mann weiß. Wilhelm Neuhaus schrieb bereits 1924 in seiner eben erwähnten Schrift folgendes: „Und ich glaube, es war die höchste Zeit, alles das zu sammeln, was noch über ihn bei den wenigen Überlebenden, die ihn genauer gekannt haben, in der Erinnerung bewahrt geblieben ist. Außer einer kleinen Schrift, die von der Aktiengesellschaft August Gottlieb zu Hersfeld während des Weltkrieges über das „Leben und Wirken des Fabrikanten August Gottlieb“ herausgegeben wurde und einigen wenigen, aber recht wertvollen Notizen, die mir die Direktion der Blinden=Anstalt zu Friedberg freundlichst zur Verfügung stellte, sind schriftliche Aufzeichnungen nicht vorhanden. Der wiederholte Übergang des Geschäfts in andere Hände ließ auch die Aufzeichnungen Gottliebs (wenn überhaupt solche vorhanden waren) verschwinden.“ August Gottlieb wurde am 08. Dezember 1844 in Waldkappel als Sohn eines Schlossermeisters geboren. „Der kleine August hatte jedoch das Unglück, in seinem vierten Lebensjahr infolge einer Scharlacherkrankung zu erblinden. Welche Eindrücke der Knabe aus seiner frühesten Kindheit, in der er die Gabe des Sehens noch besaß, in das Jünglings- und Mannesalter hinübergenommen hat, lässt sich nicht beurteilen. Er selbst hat sich in späteren Jahren nie darüber geäußert.“ Als bei dem großen Brande in Waldkappel am 25. und 26 Oktober 1854 zwei Drittel der Stadt mit 88 Wohnhäusern niederbrannten, wurde auch das Anwesen seines Vaters, eine kleine Spinnerei, vernichtet. „Dieser zog nun nach Bad Hersfeld und errichtete auf dem Trautvetterschen Grundstück eine kleine Maschinenfabrik, die für die Bedürfnisse der Hersfelder Industrie arbeitete und bald zur Ausnutzung der Wasserkraft an die Geis verlegt wurde und die Vorgängerin der Fabrik Sexauer geworden ist.“ Sie lag zwischen den Straßen „An der Obergeis“, dem „Steingraben“ und der „Dippelstraße“. Als der Knabe in das schulpflichtige Alter gekommen war, übergaben ihn seine Eltern einer Blindenanstalt in Soest in Westfalen, die er sechs Jahre besuchte. Dort erhielt er neben der allgemeinen Ausbildung Unterricht im Lesen und Schreiben der Blindenschrift. Außerdem erlernte er mancherlei Handfertigkeiten. Nach seiner Konfirmation kehrte August nach Hersfeld zurück, wo man nicht recht wusste, was aus ihm werden sollte. Sein Vater wollte ihn in Musik ausbilden lassen, worin er es dank seiner natürlichen Begabung schon ziemlich weit gebracht hatte. August wehrte sich aber, obwohl er die Musik sehr liebte. „....... denn er wollte nicht, wie er sagte, durch die Ausübung der Kunst als Blinder das Mitleid anderer erregen. Er zog es vor, ein Handwerk zu erlernen, und setzte auch seinen Willen durch. Man brachte ihn in die Blindenanstalt nach Friedberg in Hessen, wo er Gelegenheit hatte, sich in den bereits früher erworbenen Handfertigkeiten weiter auszubilden. In der Anstalt lernte man, die verschiedensten Gegenstände aus Bindfaden und Stroh anzufertigen; daneben wurde auch die Herstellung des Bindfadens selbst betrieben. Diese letztere Arbeit zog den jungen Gottlieb besonders an, ...........“. Wilhelm Neuhaus berichtet, er sei am 1. Mai 1861 in die Anstalt eingetreten und habe nach dem Zeugnis dieser Ausbildungsstätte in 1 1/2 Jahren das Seilerhandwerk gründlich erlernt. „Gleich nach dem Abschluß seiner Lehrzeit, also im Beginn des Jahres 1863, ging Gottlieb daran, das Gelernte praktisch zu verwerten. Auf einem Grundstück hinter seines Vaters Hause begann er die Herstellung von Seilerwaren in primitivem Handbetrieb, ........ .Er spann mit der Hand den Hanf aus der Schürze zu Garn und drehte mit Hilfe eines Seilerrades, das ein Junge bediente, die Fäden zu einem Seil zusammen. Dabei ging ihm ein Freund, den er in der Blindenanstalt zu Friedberg kennen gelernt hatte, hilfreich zur Hand. Das war Adam Pfifferling, aus Schlitz gebürtig und einige Jahre älter als Gottlieb. Er war von Geburt einäugig, und auch dieses Auge hatte nur eine schwache Sehkraft. Immerhin sah er noch etwas und war zudem ein sehr guter Seilereiarbeiter.“ Bei den Produkten, welche die beiden jungen Seiler herstellten, handelte es sich um Bindfäden in allen Stärken, Zugstränge, Leitseile, Taue, Wäscheleinen, geflochtene Traggurte und anderes mehr. Alles fand wegen seiner guten Qualität schnellen Absatz. Es gab sogar einen größeren Auftrag zur Lieferung von Bindfäden an die Post. Da sich die Geschäfte so gut entwickelten, erwies es sich als notwendig, die Produktion, die bisher im Freien erfolgte, in einen gedeckten und geschlossenen Raum zu verlegen. „Es muß ihm Mühe gemacht haben, das notwendige Geld für diesen Bau herbeizuschaffen, denn er wendet sich persönlich im Juni 1867 an den Vorsteher der Blinden=Anstalt zu Friedberg mit der Bitte, beim Vorschuß=Verein für ihn 500 Taler zu bürgen, eine Bitte, die dieser abschlagen musste. Von seinen Eltern hatte Gottlieb auch keine nennenswerte materielle Hilfe zu erwarten. Der Firma Gottlieb, Schramm und Dill, deren einer Teilhaber sein Vater war, ging es nicht zum besten ........... . Woher Gottlieb das Geld oder die Bürgschaft schließlich erhalten hat, wissen wir nicht ......... .“ Jedenfalls konnte er im Jahre 1867 eine überdeckte Seilerbahn von etwa 300 m Länge und 10 m Breite errichten. Dieser Betrieb entstand am „Roten Graben“, dem heutigen Seilerweg, zwischen der katholischen Kirche und der Firma Grenzebach (ehemals Babcock-BSH GmbH und davor Schilde). Gottlieb begann zunächst mit vier Arbeitern. Im Winter 1871 hatte er erst acht Arbeiter. Sein Hauptbestreben war nämlich, seinen Betrieb mit zweckentsprechenden Maschinen auszustatten. Dabei half ihm der Ingenieur Wilhelm Sexauer, der in der väterlichen Maschinenfabrik angestellt war. Sexauer stellte ihm auch die erste 4 – 6 PS starke Dampfmaschine auf. Als dieser im Jahre 1877 die in Konkurs geratene Firma Gottlieb, Schramm und Dill übernahm und nun mit seinem Betrieb genug zu tun hatte, trat Benno Schilde an seine Stelle. Gottlieb und Schilde entwickelten in gemeinsamer jahrzehntelanger Arbeit in unzähligen Versuchen die Maschinen, mit denen Gottlieb die Seilerei mechanisierte. Diese Maschinen liefen jahrzehntelang ohne Fehl und Tadel. So schreibt Emma Mann, die Tochter Benno Schildes, in den persönlichen Erinnerungen an ihren Vater im Jahre 1936 (anlässlich des 25 . Todestages am 23. Oktober 1911) : „ ....es galt, immer neue Absatzgebiete zu erschließen. In der Hauptsache aber waren es noch die Maschinen für August Gottlieb, die das Werk beschäftigten. Noch heute sehe ich im Geiste die beiden Männer, den blinden Gottlieb und meinen Vater, Arm in Arm tagtäglich den damaligen „Flehmenweg“ auf- und abwandern, in eifrigem Gespräch. August Gottlieb hatte von Jahr zu Jahr wachsendes Vertrauen zu seinem Freunde Benno Schilde gewonnen und machte ihn immer mehr mit seinen Sorgen und Ideen bekannt. Der fast alltägliche Aufenthalt in der Seilerei von Gottlieb war für Vater eine Fundgrube für alle möglichen neuen Ideen. Alles, was er sah, prüfte er auf die Möglichkeit hin, durch technische Verbesserung eine Verbilligung oder günstigere Wirtschaftlichkeit zu erzielen.“ Und weiter schreibt sie: „Auch die Anregung für seine so bewährten Exhaustoren und Ventilatoren hatte er in der Seilerei bekommen: denn dort war ihm ein gusseiserner Exhaustor aufgefallen, der durch seine unförmigen Gussmassen ihn auf den Gedanken brachte zu versuchen, diese schwere, kostspielige und kraftfressende Bauart durch Konstruktion in Stahlblech und später sogar in einfachem Eisenblech zu ersetzen.“ Wie wertvoll die Zusammenarbeit mit August Gottlieb für Benno Schilde war, zeigt eine weitere Bemerkung Emma Manns. So schreibt sie nämlich, dass die Zwirnmaschine, die er für Gottlieb gebaut hatte, und die Beschäftigung mit den Aufgaben einer Mechanisierung der Gottliebschen Seilerei eine stetig zunehmende und sichere Beschäftigung für das Maschinenbauunternehmen Schilde gebracht habe.

Doch zurück zu August Gottlieb. Auch Rückschläge blieben für ihn nicht aus. Möglicherweise hatten die langwierigen Versuche und kostspieligen Konstruktionen zuviel Geld verschlungen, denn 1877 geriet die Firma in ernste Zahlungsschwierigkeiten und machte Konkurs. Im Inspektionsbericht der Blindenanstalt Friedberg heißt es in einer Eintragung aus dem Jahre 1878: „Erfuhr heute den 2. Nov., dass August einen kolossalen Bankrott gemacht habe. Wer hoch steigt, fällt tief. Hat jedenfalls seine Kräfte überschätzt. Schade drum! - -“ Aber die Friedberger hatten August Gottlieb doch nicht richtig gekannt, denn ohne eine Bürgschaft zu verlangen, willigten Gottliebs Gläubiger in einen Vergleich, der ihre Forderungen auf 25% herabsetzte, die ohne Zinsen nach drei Jahren zurückgezahlt werden sollten. Sie glaubten an die Rechtschaffenheit und den Arbeitswillen ihres Schuldners. „Schon bald leistete er Abzahlungen und 1884 konnte die Friedberger Blindenanstalt in ihren Akten verbuchen, dass er alle seine Gläubiger zum vollen Betrage ihrer Forderungen befriedigt habe.“ Durch den Übergang zur mechanischen Seilerei erzielte er nämlich bei geringeren Geschäftsunkosten eine höhere Leistungsfähigkeit und bekam dadurch bald einen Vorsprung vor seinen Konkurrenten, die weiter die Handseilerei betrieben. So fanden neue Artikel Abnehmer, der Fabrikbetrieb wurde weiter ausgebaut und weitere Arbeitskräfte wurden eingestellt. Man benötigte jetzt auch immer mehr technische und kaufmännische Hilfskräfte. Vor allem ging man auch zur Verarbeitung von Jute über. Zum Verschnüren der Zuckerhüte gingen jetzt aus Jute hergestellte Fäden an Zuckerraffinerien in ganz Deutschland. „Bei allen notwendig werdenden Vergrößerungen und Verbesserungen des Betriebs ging die Initiative von Gottlieb selbst aus. Bei seinem Tode waren in der Fabrik Dampfmaschinen und elektrische Motoren von insgesamt 300 PS. tätig, und hunderte von Arbeitern hatten in ihr lohnende Beschäftigung gefunden.“



Bid 2: Seilerwarenfabrik (heute nicht mehr vorhanden) und Villa



Dabei und bei allem, was noch zu berichten ist, muss man jedoch immer im Gedächtnis behalten und berücksichtigen, dass es sich bei August Gottlieb um einen blinden Menschen handelte, um seine Leistung gebührend würdigen zu können. "Wer ihn in den weitverzweigten Räumen seiner Fabrik ohne die geringste Führung umhergehen sah, würde kaum geglaubt haben, daß er es mit einem vollkommen blinden Manne zu tun hatte." So war er auch einer der ersten in Hersfeld und Umgebung, der ein Automobil besaß. In ihm ließ er sich bei gutem Wetter zu einer Quelle "In der Talkaute" fahren. Diese Quelle liegt links der Straße zwischen Mecklar und Blankenheim und heißt noch heute Gottliebbrunnen", was aber nur noch wenige wissen. Gottliebs Fahrer war sein Schlosser Jean Walk. Erwin Walk berichtet über die Fahrten seines Großvaters mit Gottlieb eine kleine Anekdote. So seien die Straßen durch die Ortschaften damals alles andere als autogerecht gewesen. Jede Ausfahrt sei ein kleines Abenteuer mit ungewissem Ausgang gewesen und es habe wiederholt unfreiwillige Stopps gegeben. „Oft blieb auch der Motor stehen, wenn man sich gerade auf der Höhe einer Dorfgaststätte befand. Der trockene Kommentar des blinden August Gottlieb: "Gell! Roter Bursch! Jetzt hott nicht der Motor, sondern der Fahrer Durst. Und man hielt zu dritt (mit Gottliebs Ehefrau, Anm. d. Verfs.) Einkehr. ............... " ``Roter Bursch´´ wurde Jean Walk wegen seiner politischen Aktivität für die Sozialdemokraten von seinem Firmenchef gehänselt."

Bild 3: August Gottlieb (auf dem hinteren Sitz) mit Gattin und Fahrer (Vermutlich handelt es sich bei dem Fahrer um Adam Christian Franke, wie die Familie Franke mitteilte, die das Foto zur Verfügung stellte. Bei dem Auto handelt es sich außerdem um einen Elektrowagen.)


Will man nun wissen, was für ein Mensch August Gottlieb war, so muss man sich hauptsächlich auf das verlassen, was Wilhelm Neuhaus in seiner eingangs genannten Schrift berichtet. Neuhaus hatte nämlich die Möglichkeit, Menschen zu befragen, die Gottlieb noch persönlich gekannt hatten. Diese Möglichkeiten haben wir natürlich heute nicht mehr. So berichtet Wilhelm Neuhaus: „Seinen Arbeitern war er ein gütiger Freund. Bei ihren materiellen Sorgen, in Krankheits- und Unglücksfällen war er zur Stelle und nicht nur mit dem kalten Gelde, sondern auch mit warmem Herzen. Natürlich verlangte er, der selber, solange es ging, der erste an der Spitze war, von ihnen fleißige und gute Arbeit, und er konnte recht unangenehm werden, wenn ihm etwas wider den Strich ging. Aber noch heute sind die Wenigen, die noch unter ihm gedient haben, ohne Ausnahme voll des Lobes über ihren gerechten, wohlwollenden, immer hülfsbereiten Herrn.“ Fast alle seine Arbeiter habe er persönlich gekannt. Die meisten habe er an ihrer Stimme erkannt. Das Auslohnen der Arbeiter habe er selbst besorgt. Er habe das Geld gezählt, und es sei nicht bekannt geworden, dass er sich jemals dabei geirrt habe. Wer nun war August Gottlieb privat und als Bürger dieser Stadt? Sein häusliches Leben soll glücklich gewesen sein. „Er verheiratete sich zur Zeit seiner Fabrikgründung. Ein bescheidenes Haus hatte er sich neben der Fabrik erbaut. Leider fehlte der Ehe der Kindersegen. Im geselligen Verkehr trat der Mangel des Sehvermögens Gottliebs in keiner Weise zu Tage. Er war ein ungewöhnlich guter Gesellschafter, voll von Vorzügen des Geistes. Fast kein Leben-s und Wissensgebiet war ihm fremd. Man staunte oft, wenn sich zeigte, wie er überall zu Hause war. Über alles, was den Tag bewegte, suchte er sich zu unterrichten; er ließ sich gute Werke und die Tageszeitung vorlesen und pflegte vielseitigen Umgang mit Personen, bei denen er Anregung und Belehrung fand. Ein besonders hervortretender Zug seines Wesens war ein glücklicher, nicht verletzender Humor, mit dem er rasch die Herzen gewann. Wer auch nur vorübergehend mit ihm in nähere Berührung kam, wurde durch seinen sprudelnden Geist, den Scharfsinn seiner Bemerkungen und die Richtigkeit seines Urteils gefesselt.“ Schließlich hatte August Gottlieb auch viel Genuss und Freude an der Musik, der er von Jugend an ergeben war, wie schon weiter oben erwähnt wurde. So hat er Klavier, Harmoniun und Cello gespielt und soll es dabei zu ganz respektablen Leistungen gebracht haben. Obwohl Gottlieb von seinem Betrieb sehr in Anspruch genommen wurde, fand er dennoch Zeit, sich mit den öffentlichen Angelegenheiten seiner Heimatstadt zu beschäftigen. Er wurde durch das Vertrauen seiner Mitbürger in die städtischen Körperschaften berufen und wirkte in ihnen segensreich. So wird in der Schrift der Jutespinnerei berichtet. Leider ist es auch in der Stadtverwaltung nicht mehr nachzuvollziehen, um welche Ämter es sich dabei gehandelt hat. Gottlieb hat sich jederzeit der Armen mit großer Opferwilligkeit angenommen. Seine Verdienste um Hersfeld waren so hervorragend, dass nach seinem Tode die Straße, in der sich seine Fabrik und das von ihm erbaute Haus befanden, August-Gottlieb-Straße benannt wurde. Ein Stück des unteren Teils dieses Straßenzugs wurde nach 1965 dem Seilerweg zugeschlagen, nachdem ein weiterer Teil der August-Gottlieb-Straße in das Gelände der Firma Grenzebach (ehemals Babcock-BSH GmbH und davor Schilde) einbezogen worden war. Gottliebs Haus steht noch heute am Seilerweg 3 und befindet sich im Privatbesitz. Leider setzte eine Krankheit, er war schwer zuckerkrank, dem Leben dieses hervorragenden Mannes ein frühes Ende. August Gottlieb starb am 13. Juni 1903 im Alter von 58 Jahren in Wiesbaden, wohin er zur Kur gefahren war. An der Außenseite der Stadtmauer neben dem Klausturm steht heute ein Gedenkstein mit Gottliebs Bildnis, der ursprünglich an seiner Villa und dann auf dem Gelände der Jutespinnerei an der Landecker Straße stand. Auf der später hinzugefügten Schrifttafel heißt es: „August Gottlieb geb. 18. 12. 1844 in Waldkappel - gest. am 13. 06. 1903 in Wiesbaden - In Hersfeld betrieb der in frühester Jugend Erblindete eine Seilerei und entwickelte durch geniale Erfindungen eine industrielle Produktion. Seine Frau Agnes, geb. Vietor, setzte diesen Gedenkstein und stiftete das erworbene Vermögen Wohlfahrtseinrichtungen der Stadt.“ Tatsächlich waren Gottlieb und seine Frau große Wohltäter, die sich der Armen in vorbildlicher Weise annahmen. Auch nach Gottliebs Tod verging kaum ein Jahr, in dem seine Witwe nicht erhebliche Geldbeträge für Arme stiftete oder Mittel für öffentliche Anlagen zur Verfügung stellte.

Was blieb? Gottliebs Seilerwarenfabrik wurde in seinem Todesjahr in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die sich in gedeihlicher Weise fortentwickelte. Die Firma nannte sich "August Gottlieb Mechanische Seilerwarenfabrik Aktiengesellschaft". Es gab zwei Abteilungen: Abt. I: Seilerwarenfabrik, Abt. II: Jutespinnerei, Weberei und Sackfabrik. Stärker entwickelte sich noch auf den Grundlagen, die August Gottlieb geschaffen hatte, jedoch die Jutespinnerei und -weberei. Die neuen Fabrikgebäude dafür wurden vor dem Peterstor in der Landecker Straße in der Nähe des Bahnhofs errichtet, wo August Gottlieb schon ab 1902 zu bauen begonnen hatte. Eine Sacknäherei wurde 1906 an die Seilerei angeschlossen. 1914 fanden in diesen Betrieben 374 Menschen Arbeit und Brot und verarbeiteten jährlich rund 2000 Tonnen Jute. Zwei Angebote an einen Kunden geben Auskunft über die die damaligen Produktpalette.



Bild 4 und 5: Angebot der Firma "August Gottlieb Mechanische Seilerwarenfabrik Aktiengesellschaft" vom 31. August 1914



Bild 6: Angebot der Firma "August Gottlieb Mechanische Seilerwarenfabrik Aktiengesellschaft" vom 11. Dezember 1914



Heute stehen an der Stelle der alten Seilerei die Fertigungsanlagen des Serienventilatorenherstellers TLT (Turbolufttechnik), eines Tochterunternehmens der ehemaligen Babcock BSH AG, die wiederum mehrheitlich Babcock Borsig in Oberhausen gehörte. Heute gehört TLT dem Frankenthaler Maschinenbaukonzern Kühnle, Kopp & Kausch. Zusammenfassend lässt sich aber festhalten, dass August Gottlieb einer derjenigen war, welche die Industrialisierung Hersfelds voranbrachten. Dies ist umso erstaunlicher, dass er als Blinder einen großen Betrieb errichtete und leitete. Dabei bewies er eine soziale Einstellung und Spendenbereitschaft. Beides war Veranlassung für die Stadt, eine Straße nach ihm zu benennen. Durch seine volkstümliche Art war er bei den Menschen seiner Zeit beliebt. Was hier über Gottlieb als Mensch und als Fabrikant gesagt wurde, war der Grund dafür, ihm anlässlich seines hundertsten Todestages ein ehrendes Andenken zu bewahren.





Bild 7: Inspektionsbericht der Blinden-Anstalt Friedberg über ihren Schüler August Gottlieb



Inspektionsbericht der Blinden-Anstalt Friedberg über ihren Schüler August Gottlieb Nr. 85 (Abschrift)


Gottlieb August aus Hersfeld geb. zu Waldkappel; Kreis Eschwege den 8 Decb. 1844, eingetreten den 1 Mai 1861 und ordentlich entlassen den 31 Okt. 1862. Erblindet in seinem 4 Lebensjahr am Scharlach. War 6 Jahre in der Blinden-Anstalt zu Soest in Westfalen und hat etwas tüchtiges gelernt. Spielte sehr gut Clavier und war auch sonst in vielen sonstigen Schulgegenständen gut unterrichtet. Er war nur hier um die Seilerei gründlich zu erlernen, was auch gelang. Er arbeitet nun zu Hause mit bestem Erfolg. Seit längerer Zeit beschäftigt er als Gesellen Nr. 65 mit dem er übrigens nach seiner mündlichen Mitteilung nicht sehr zufrieden ist, wegen dessen Unzufriedenheit und Rechthaberei. Ja schriftlich Beziehung hat er mehr im Kopfe als im Herzen, was sein Weltsinn beweiß, sonß bürgerlich sehr brav und überaus fleißig. 1862 Schrieb uns am 26 Jan. und wollte Auskunft über Hanf. Nach seinem Schreiben geht es ihm gut. War zur Jahresfeier am 12 Okt. etliche Tage hier in sehr heiterer Sti~mung. Wünschte ihm etwas. ?????. --- Aber. ------ 1865 Mai den 26 in Hersfeld besucht, ging ihm wie immer und war auch noch ganz der alte. 1866 Im Mai habe ich ihn in Hersfeld besucht, geht ihm sehr gut. 1867. War Anfang Januar hier zu Besuch. den 3 Juni hier zu Besuch. Bat mich beim Vorschuß-Verein für 500 Thl. für ihn gut zu sprechen, weil er Geld zu einer überbauten Seilerbahn bedürfe. Ich sagte ihm, dass solches nicht anginge, weil sich zwei Mann verbürgen müssten und er als Seiler selbst Mitglied des Vereins sein müsse. Zog also unverrichteter Sache ab. 1869. den 26 Juni besucht. Betreibt die Seilerei mit 4 Arbeiter. Ist geschäftlich sehr großartig eingerichtet. Bei der Gewerbeausstellung zu Leipzig ist ihm der zweite Preis, die silberne Medaille, für seine Seilerwaren zu Theil geworden. 1872. Im Mai besucht. Hat sich verheiratet und geht ihm überaus gut. Er hatte im Winter 8, jetzt noch 5 Arbeiter. Hat sein selbst erbautes Haus durch einen Umbau vergrößert. 1878. Erfuhr heute den 2 Nov., dass August einen kolosalen Bankrott gemacht habe. Wer hoch steigt, fällt tief. Hat jedenfalls seine Kräfte überschätzt. Schade drum! – 1882. Sah ihn im Juli beim Sängerfest in Frankfurt. 1884. Heute aus zuverlässiger Quelle, dass er alle seine Gläubiger vollständig befriedigt habe. 1885. Uns mit Frau besucht. 1887. den 22 Sept. besucht; er hat 18 Arbeiter und liefert jährlich 7 bis 10,000 Zentner Kordel aller Art. Ist eine Fabrik, wie ich sie nie gesehen. 1890. Besucht den 19 Juni. Siehe Bericht. 1893 „ 19 Juni. „ „ +. 13 Juni 1903



Eine kleine Firmengeschichte


1863 Gründung einer Seilerei durch August Gottlieb. Produktion von Bindfäden, Leitseilen, Zugsträngen, geflochtenen Traggurten, Tauen u. s. w.

1867 Errichtung der 300 m langen und 10 m breiten Seilerbahn am „Roten Graben“ (heute Seilerweg) mit insgesamt vier Arbeitern

1871 Es gibt insgesamt erst acht Beschäftigte, da eine der Hauptinteressen Gottliebs dahin geht, die Handarbeit durch Maschinenarbeit zu ersetzen. Zu diesem Zweck erfolgt eine sehr enge Zusammenarbeit mit Benno Schilde, der Ideen von Gottlieb realisiert und z. T. völlig neue Maschinen für ihn baut. Auch für sonstige Neuerungen ist er sehr aufgeschlossen, wodurch die Firma als erste in Bad Hersfeld über eine eigene Lichtanlage sowie über Elektroautos verfügt.

1877 Die Firma gerät in finanzielle Schwierigkeiten und geht in Konkurs. Es gelingt Gottlieb jedoch, diese Schwierigkeiten zu beheben und die Gläubiger hundertprozentig zu befriedigen.

1887 18 Beschäftigte

1890 30 Beschäftigte

1893 42 Beschäftigte

1903 98 Beschäftigte. Nach dem Tode wird die Firma, da keine Erben vorhanden sind, in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und wechselt dann mehrfach den Besitzer. Zeitweilig befinden sich die Aktien sogar in englischem Besitz.

1905-07 Eine Jutespinnerei und –weberei mit einer dazugehörigen Sacknäherei wird auf dem heutigen Gelände an der Landecker Straße errichtet. Während des 1. Weltkrieges kam eine Hanfspinnerei hinzu. In den zwanziger Jahren wird die Firma von dem sogen. Blumensteinkonzern übernommen und wurde damit Zweigwerk der Vereinigten Jutespinnereien und -webereien AG mit Sitz in Hamburg.

1938 Die alte Seilerei brennt fast vollständig ab.

1959-62 Aufbau einer modernen Chemiefaserspinnerei.

1962 Die Besitzer, die Ralli Brothers, verkaufen die Aktien an die Dresdener Bank. Übernahme der Teppichproduktion von Hamburg-Harburg nach Bad Hersfeld und Aufbau einer Teppichbodenabteilung

1963 Erwerb der rechten Hälfte der Braun’schen Fabrik

1965 Dynamit Nobel übernimmt die Aktien. Neubau der Lager- und Versandhalle. In diesem Jahr wird die Teppichbodenproduktion zum Hauptleistungsträger des Werkes. Die alten Fertigungen wurden bzw. werden eingestellt, um den ständig größer werdenden Platzbedarf der Teppichbodenabteilung befriedigen zu können

Ende 1984 Dynamit Nobel schließt die Firma. Die Stadt Bad Hersfeld kauft das Gelände und verkauft es weiter an Interessenten.



Quellen

1. Dem Gedächtnis des Gründers unseres Werkes Hersfeld, anlässlich der Wiederkehr seines 80. Geburtstages gewidmet, Vereinigte Jute-Spinnereien und Webereien Aktien-Ges., Hamburg, Zweigniederlassung Hersfeld, vormals August Gottlieb, Spinnerei, Weberei und Seilerwarenfabrik Aktiengesellschaft von Wilhelm Neuhaus: August Gottlieb, Ein Bild seines Lebens und Wirkens, Gedruckt in der Hoehlschen Buchdruckerei in Hersfeld, 1924


2. Festschrift anlässlich der 700-Jahrfeier der Gemeinde Mecklar am 13. und 14. September 1952, herausgeben von der Gemeinde Mecklar


3. Inspektionsbericht der Blinden-Anstalt Friedberg über ihren Schüler August Gottlieb


4. Kulturdenkmäler in Hessen, Landkreis Hersfeld-Rotenburg III, Stadt Bad Hersfeld, Herausgegeben vom Landesamt für Denkmalpflege Hessen, Thomas Wiegand


5. Leben und Wirken des Fabrikanten August Gottlieb in Hersfeld, Unseren erblindeten Kriegern gewidmet, herausgegeben von der Aktien=Gesellschaft August Gottlieb, Jutespinnerei, Weberei und Seilerwarenfabrik zu Bad Hersfeld, Hoehlsche Buchdruckerei, Inh. K. Bächstädt, Hersfeld


6. Mann, Emma: Benno Schildes Leben und Werk, Persönliche Erinnerungen an meinen Vater zur 25. Wiederkehr seines Todestages (23. Oktober 1911) in Mein Heimatland, Zeitschrift für Geschichts-, Volks- und Heimatkunde, Illustrierte Beilage zur Hersfelder Zeitung/Hessischer Bote – Druck und Verlag: Hoehlsche Buchdruckerei, Oktober 1936, 12. Band


7. Neuhaus, Wilhelm: Geschichte von Hersfeld, Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Auflage, Hans Ott=Verlag, Bad Hersfeld


8. Tuch und Leder, Bier und Maschinen, Hersfelder Industriebetriebe zwischen Gründerzeit und Zweitem Weltkrieg, Ein architektur- und wirtschaftsgeschichtlicher Spaziergang anlässlich des Tages des offenen Denkmals in Bad Hersfeld am 13. September 1998, Thomas Wiegand 1998


9. v. Stingl, A.: Ein vergessener Gedenkstein, Mein Heimatland, Bd. 30, 1982


10. Walk, Erwin: Industrialisierung in Hersfeld aktiv erlebt, in Bad Hersfelder Jahresheft 1994 Ott Verlag GmbH . Bad Hersfeld



Bildnachweis


Bild 1: aus „Leben und Wirken des Fabrikanten August Gottlieb in Hersfeld, Unseren erblindeten Kriegern gewidmet, herausgegeben von der Aktien=Gesellschaft August Gottlieb, Jutespinnerei, Weberei und Seilerwarenfabrik zu Bad Hersfeld, Hoehlsche Buchdruckerei, Inh. K. Bächstädt, Hersfeld“, S. 3

Bild 2: ebenda, S. 8

Bild 3: von Familie Franke zur Verfügung gestellt; jetzt im Stadtarchiv

Bilder 4 bis 6: Schriftstücke aus einem Aktenkonvolut, der auf einem Flohmarkt erworben wurde

Bild 7: Kopie aus dem Inspektionsbericht der Blinden-Anstalt Friedberg über ihren Schüler August Gottlieb




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